Ein Bericht

Nur ein paar Nachmittage

Es ist Herbst. Früh schon wird es dunkel. Ein jugendlicher Strafgefangener und der Pfarrer sitzen beim Schein einer Kerze und dem einer modernen Stehlampe im Gesprächszimmer des Gefängnisseelsorgers in der JVA. Das Neonlicht bleibt aus. Sie reden miteinander. Es klopft. Die Tür öffnet sich. Ob er störe oder sich dazusetzten könne. Ein anderer jugendlicher Strafgefangener. Der Pfarrer kannte ihn bisher nur von Kurzgesprächen im Vorübergehen. Und wie immer, wenn jemand zu ihm ins Gesprächszimmern kommt, fragt der Pfarrer – es gehört zur „Liturgie“ – ob er ihn zu einer Tasse Kaffee einladen könne.

Und dann erzählen die beiden – bis die Frage kommt, weswegen der eine die Tür geöffnet hat: Ob der Pfarrer denn im nächsten Frühjahr wieder sein „Projekt“ machen würde. Ehrenamtliche Arbeit draußen – jenseits der Mauern der JVA – darum geht es. Ehrenamtliche Arbeit von Strafgefangen zusammen mit Ehrenamtlichen von draußen. In einem der kleinen Dörfer unserer Region. Offenbar gibt es so eine Art institutionelles Gedächtnis.

Zwei Jahre lang konnte auf Grund staatlicher Corona-Verordnungen vieles nicht stattfinden. Das „Projekt“ war ebenso betroffen. … wie die Kinder, die in dieser Zeit nicht mehr einfach mit ihren Freunden spielen durften, wie Familienfeiern eingeschränkt waren, Ostergottesdienste ausfielen, nicht mehr gesungen werden durfte, Alte in Alters- und Pflegeheimen isoliert waren, Sterbende im Krankenhaus allein sterben mussten, …
Zwei Jahre lang durfte das Leben nicht stattfinden. Oder nur eingeschränkt. Im Korsett. Überwacht. Autoritär durchgesetzt.
Und doch war die Erinnerung an die Zeit davor lebendig. Und die Sehnsucht danach. Auch hinter Gittern.

Von sich aus fragen Jugendliche aus der JVA nach. „Ob der Pfarrer im nächsten Jahr wieder zur ehrenamtlichen Arbeit „draußen“ einladen würde?“ „Na klar. Und, gibt’s noch mehr, die das wollen?“ „Wir sind drei!“ Drei von der SothA - der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA. Drei „gelockerte“ jugendliche Strafgefangene, die in Begleitung „raus“ dürfen.
Das „Na klar“ war leicht daher gesagt, nun aber war es ein Versprechen. Und es ist – gegen Widerstände – gelungen, das Versprechen einzuhalten.

Mittlerweile ist es Sommer - ein Neuanfang der gemeinsamen ehrenamtlichen Arbeit derer von drinnen und draußen. In einem anderen Ort als bisher. In einem sehr kleinen Ort mit 300 Einwohnern. Der Ortskirchenrat hat sein grundsätzliches Ok zu diesem Vorhaben längst gegeben. Aber! Die Kirchengemeinde ist sehr klein. „Das schaffen wir nicht. Jedenfalls nicht allein.“ „Und wenn wir den Ortsverein fragen?“

Dort gab’s zunächst Vorbehalte. Verständlich. Und dann doch Mut. Und Vertrauen in das, was der Pfarrer von seinen Erfahrungen mit diesem „Projekt“ aus den Jahren zuvor erzählt. Dann ist es so weit. Der erste Nachmittag.

Der Ortsvorsteher ist da und eine Kirchenälteste mit ihrem Mann. Und der Pfarrer. … Und dann kommen noch sechs, sieben, acht andere aus der Kirchengemeinde und dem Dorf, um mitzuarbeiten. Zum Schluss sind es fünfzehn. Mittwochs! 15:00 Uhr! Mancher kommt direkt von der Arbeit zu der Runde dazu. Auch Leute, die die eigene Kirche nicht von innen kennen. Sie kommen zu einem Arbeitseinsatz rund um diese Kirche. Und schließlich ist auch der Kleinbus aus der JVA mit den drei Jugendlichen da. Ein Bediensteter bringt sie.

Die Sonne scheint. Die Aufgaben sind klar. Der Efeu-Bewuchs am freistehenden Glockenschauer neben der Kirche, der das Dach zu zerstören droht, muss weg und der historische Friedhof – kaum noch zu erahnen- muss vom Wildwuchs ringsherum und mittendrin befreit werden. Motorsensen sind da, Astscheren, Sägen, … Alles, was man braucht. Jeder hat etwas mitgebracht. Und immer wieder verschwindet einer aus dem Dorf, um mit schwerer Technik, die es einfacher macht, zurückzukehren.

Und die Drei? Einer arbeitet zunächst lieber allein. Er bekommt eine kurze Einweisung in sein Arbeitsgerät. Er sieht die Arbeit und stimmt seine Arbeit mit den anderen ab. Die anderen beiden gesellen sich zu einer Gruppe von Männern und Frauen aus dem Ort und fragen, was sie tun sollen. Und sie machen Vorschläge. Ein Team entsteht. Einer braucht die Heckenschere. Die liegt im Kofferraum eines Autos. Er bekommt den Autoschlüssel in die Hand gedrückt. Ganz normal und doch so besonders. Er braucht einen Moment, um zu verstehen und um zu genießen, dass hier das Prinzip Vertrauen herrscht.

Nach drei Stunden Arbeit duftet es vom Grill. Getränke und Salate stehen in der Kirche, die Tische direkt davor. Alle essen miteinander und erzählen: Dorf, Arbeit, Politik, Gefängnisalltag. Eine bunte Mischung. Die Drei sind mittendrin. Und am Rand gibt’s persönlichere Gespräche, die tiefer gehen.
„Darf ich dich fragen, warum du „sitzt“?“ „Ja, klar.“ Gespräche auf Augenhöhe sind das. Nichts beschönigend, bagatellisierend. Von beiden Seiten nicht. Das Nein zu den Taten der Drei ist klar, aber es ist kein Nein zu ihnen. Das ist auch deutlich. Und das macht es überhaupt erst möglich, zu reden.

Alle gemeinsam sind stolz auf das, was sie heute geleistet haben. Und das ist beeindruckend.
Und eine kleine Kirchenführung gibt’s auf Wunsch auch noch.
Die Drei werden abgeholt und fahren zurück in die JVA. 
Und der eine oder andere aus der Runde hat jetzt auf einmal ein Feierabendbier in der Hand, das so lange nicht sichtbar war, wie die Jugendlichen hier waren, die keinen Alkohol trinken dürfen.

Beim nächsten Arbeitseinsatz werden sie bereits mit „High five“ begrüßt. Eine gute Erfahrung: Wertschätzung durch Engagement, durch ihrer Hände Arbeit. Und wieder sind so viele da, die zusammen mit ihnen arbeiten wollen.
Deren Kinder kommen vorbei, um zu fragen, ob sie zu den Pferden dürfen … und mal die Kirche ansehen. Auch sie waren da noch nie drin. Der Pfarrer erzählt und sie probieren sich in Kanzelreden oder im Orgelspiel. Später versuchen sich die drei Jugendlichen aus der JVA im Glockenläuten – das Dorf ist vorgewarnt.

Fünf Arbeitseinsätze. Woche für Woche. Die Stimmung ist gut. Es macht Spaß.
Mancher aus dem Dorf kommt nach seinem Feierabend vorbei, um die Ergebnisse der Arbeit gebührend zu würdigen. Und um mit den anderen zu erzählen. Zusätzlich noch eine Bratwurst auf die Hand ist auch nicht zu verachten.

Ein Artikel erscheint auf den Lokalseiten der Zeitung. Jeder der Drei bekommt eine Kopie. Und die wird an Mama und Papa oder an die Freundin geschickt. In der Zeitung stehen jetzt ganz andere Sachen über mich! – ist die Botschaft.

Und einer der Drei erzählt allen – die es hören und auch denen, die es nicht hören wollen – wie er im Ausgang von der JVA im Supermarkt war und auf einmal einer durch den Supermarkt gerufen hat: „Mensch, was machst Du denn hier?“ Einer von denen, mit denen er in diesem Dorf zusammengearbeitet hat. Wahrgenommen, geachtet und geschätzt werden. Dazugehören.
Ein anderer erzählt: „Das war toll. Ich habe so viel wirklich schlimmen Mist gebaut, jetzt konnte ich auch mal was Gutes zurückgeben. Mit Kirche habe ich ja sonst nichts am Hut, aber das war schon gut.“

Nach dem letzten Arbeitseinsatz sind alle auf den Hof des Ortsvorstehers eingeladen. Den kennen die Drei gut. Der war jedes Mal dabei. Es gibt über offenem Feuer gekochte Suppe, Gegrilltes, Salat. Und die Bediensteten, die die Drei dann abholen, bekommen auch was zu Essen.
Und dann verabschieden sich alle. Die Drei fahren zurück in die JVA. „… und vergesst nicht, am Samstag vor dem dritten Advent ist bei uns Dorf-Adventsmarkt.“

Der Pfarrer könnte der vergesslichste Mensch der Welt sein, d e n Termin kann er nicht vergessen. Zu oft schon wurde er von den drei Jugendlichen daran erinnert. „Sie fahren uns doch hin?“ „Ja, versprochen.“

Ein paar Wochen nach den Arbeitseinsätzen. Der Pfarrer ist zu einem Bestattungsgottesdienst im Nachbardorf. Er steht an der Kirchentür, um alle ankommenden Trauergäste zu begrüßen. Da kommt einer aus dem Dorf, der bei den Arbeitseinsätzen dabei war: „Du siehst heute so anders aus, aber schön Dich zu sehen.“ Er kannte den Pfarrer bisher wohl nur in Arbeitsklamotten, nicht aber im Talar! Meistens ist es andersherum. Und der Pfarrer denkt: Vielleicht sieht man sich ja auch mal sonntags oder wenigstens zu Weihnachten, Ostern, Pfingsten – jedenfalls zu einem frohen Anlass - in der Kirche. Wer weiß das schon.

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